Das Buch:
Hugo Hamilton, Jede einzelne Minute, erschienen bei Luchterhand im September 2014, € 18,99. Vorgestellt von
Susanne Kardel.
Die irische Schriftstellerin
Nuala O’Faolain
(„Ein alter Traum von Liebe“) erkrankte 2008 an Krebs. Eine das Leben
verlängernde Chemotherapie lehnte sie ab. Was würden Sie tun, wenn Sie
wüssten, dass Sie nur noch eine kurze Zeit zu leben hätten? Sie wusste
es. Sie wollte eine Reise unternehmen, eine letzte Reise, zusammen mit
ihrem deutsch-irischen Freund und Schriftstellerkollegen Hugo Hamilton
(„Der irische Freund“). Sie reisten zusammen im Mai 2008 für zwei Tage
nach Berlin.
Sie wollte nach Berlin. Und ich
begleitete sie. Das Reisen war ihr Lebenselixier, und sie wollte
unbedingt noch ein letztes Mal wegfahren. Ganz egal wohin, sagte sie.
Weg. Einfach weg. Wie wäre es mit Berlin?, schlug ich vor, und sie
antwortete: Ja, warum nicht? Sie hatte oft mit Berlin geliebäugelt, die
Reise aber immer wieder aufgeschoben, und nun befürchtete sie, es nie
mehr dorthin zu schaffen. Ich finde es toll, wie man in Deutschland
Kartoffeln zubereitet, sagte sie. Ich möchte das Pergamon-Museum sehen.
Den Botanischen Garten. Und die Kirche, die man nach dem Krieg als Ruine
stehen ließ.
Hugo Hamilton hat über diese Reise
einen Roman geschrieben. „Jede einzelne Minute“ – erschienen im
Herbst 2014 im Luchterhand-Verlag. Die Protagonisten: Ùna und Liam.
Vielleicht brauchte er es, aus diesem Abstand heraus zu erzählen, was er
selber erlebte. Für mich bleibt es jedoch mehr
Biographie/Autobiographie als Roman. Die eigentlichen Hauptakteure –
Nuala und Hugo – waren mir beim Lesen stets gegenwärtig. Es sind
schlichte und doch so gewichtige Worte, die dieses Buch ausmachen, es
fast kurz-weilig erscheinen lassen.
Dieses Mal ist
es anders, sagte sie mehrmals während des Fluges von Dublin nach
Berlin. Als die Stewardess ein Foto von uns machte, musste sie weinen.
Sie lächelte und weinte gleichzeitig, und sie sagte: Dieses Mal ist es
anders, Liam. Dieses Mal ist es anders. Vielleicht hatte sie Angst, so
fotografiert zu werden. Denn das Foto hielt sie fest. Einerseits hielt
es sie fest, andererseits ließ es sie stehen.
Eine
Frau im warmen, schwarzen Mantel, einem grauen Cappy, das die kahle
Kopfhaut bedeckt, an den Füßen rote Segeltuchschuhe mit weißer Sohle und
weißen Schnürsenkeln, eine durchsichtige Plastiktasche mit
Habseligkeiten auf dem Schoß. Im Rollstuhl sitzend – Ùna. Nuala? Ein
deutlich jüngerer Mann, der den Rollstuhl schiebt, an ihrer Seite –
Liam. Hugo?
Ihre Reiselust war ungebrochen, und
die Reise nach Berlin gab ihr neuen Auftrieb. Sie war sozusagen ein
Zugewinn an Zeit. Überzählige Zeit. Ja, ich sterbe, sagte sie, aber
davon abgesehen geht es mir doch prima! Sie versuchte immer wieder, ihr
Los mit Humor zu nehmen, bemühte sich, die Realität auszublenden.
Verständlicherweise. Sie war voller Energie und wollte alles sehen. Alle
Galerien. Alle Museen, alle Parks, alle Orte, die sie noch nicht
kannte. Sie wollte mehr über die Geschichte erfahren, wollte wissen, wie
sich die Stadt nach dem Fall der Mauer verändert hatte und wie sie
jetzt aussah, in diesem Moment, lebendig, atmend und voller Erinnerung.
Alles, was für mich noch möglich ist, sagte sie. Auf dem Briefpapier des
Hotels hatte sie eine Liste geschrieben, einen Terminplan, wenn man so
will.
Der Botanische Garten, die
Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, die Berliner Mauer, das
Pergamon-Museum, das Holocaust-Mahnmal, die Berliner Staatsoper, die
Paris Bar, das Hotel Adlon – Schauplätze dieser Reise und doch
erscheinen sie nebensächlich.
Vielmehr geht es ums Reden. Sie
reden miteinander. Sie reden viel. Und sie schweigen miteinander.
Schonungslos ehrlich, an manchen Stellen verbittert und doch
lebensbejahend erzählen die Beiden einander ihre Geschichten. Szenen der
Vergangenheit leuchten auf, die ihr Leben geprägt haben: ganz zentral
der für Ùna unverarbeitete Tod ihres jüngeren Bruders Jimmy und immer
wieder geht es um die schwierige Beziehung zu ihren Eltern. Liams
zerbrechliche Geschichte seiner Ehe, seiner Vater-Tochter-Beziehung.
Vielleicht nie Ausgesprochenes wird ausgesprochen, nie Gedachtes
gedacht.
Demütig und voller Fürsorge begleitet Liam Ùna in diesen
Tagen. Szenen, wie er im Taxi ihre Fußnägel schneidet, gemeinsam mit ihr
einen Bettbezug aussucht für ihren letzten Schlaf oder sie völlig
verzweifelt im Hotel sucht, nachdem sie sich verlaufen hat, ihr Hände
und Füße reibt, um sie zu wärmen, berühren zutiefst. Man spürt eine
tiefe Vertrautheit der Beiden, ein stilles Zugeneigt sein,
unvergleichliche Freundschaft.
Es ist eine außergewöhnliche Reise,
eine Abschiedsreise, still, aber voller Bewegung – innerlich und
äußerlich. Zerbrechlichkeit und Tod vor Augen und doch jede einzelne
Minute des noch verbleibenden Lebens aufsaugend.
Wir
hätten die schönste Zeit unseres Lebens haben können, sagte sie, wenn
wir gemeinsam um die Welt gereist wären, zigmal über den Äquator, zu den
Galapagos-Inseln und dem Indischen Ozean, bis nach Sri Lanka und Tibet,
in jeden Winkel der Welt, an fremde Orte, egal in welcher Reihenfolge.
Ach, all die Menschen, denen wir begegnet wären, die überfüllten Züge,
überall Koffer, Leute, die auf der Gepäckablage schlafen, bis nach
Afrika, wo das Leben auf Erden seinen Anfang nahm, und Gott allein weiß,
wohin wir von dort gereist wären, vielleicht bis ans Ende der Welt. Ja,
ich hätte für Jimmy bis ans Ende der Welt gehen müssen.
Alles egal, Hauptsache, wir wären unterwegs gewesen, sagte sie. Alles egal, Hauptsache, wir wären gereist.
Wenige Tage nach ihrer Rückkehr aus Berlin verstarb Nuala O’Faolain.