Montag, 15. Dezember 2014

Jede einzelne Minute


Das Buch:  Hugo Hamilton, Jede einzelne Minute, erschienen bei Luchterhand im September 2014, € 18,99. Vorgestellt von Susanne Kardel.
Die irische Schriftstellerin Nuala O’Faolain („Ein alter Traum von Liebe“) erkrankte 2008 an Krebs. Eine das Leben verlängernde Chemotherapie lehnte sie ab. Was würden Sie tun, wenn Sie wüssten, dass Sie nur noch eine kurze Zeit zu leben hätten? Sie wusste es. Sie wollte eine Reise unternehmen, eine letzte Reise, zusammen mit ihrem deutsch-irischen Freund und Schriftstellerkollegen Hugo Hamilton („Der irische Freund“). Sie reisten zusammen im Mai 2008 für zwei Tage nach Berlin.
Sie wollte nach Berlin. Und ich begleitete sie. Das Reisen war ihr Lebenselixier, und sie wollte unbedingt noch ein letztes Mal wegfahren. Ganz egal wohin, sagte sie. Weg. Einfach weg. Wie wäre es mit Berlin?, schlug ich vor, und sie antwortete: Ja, warum nicht? Sie hatte oft mit Berlin geliebäugelt, die Reise aber immer wieder aufgeschoben, und nun befürchtete sie, es nie mehr dorthin zu schaffen. Ich finde es toll, wie man in Deutschland Kartoffeln zubereitet, sagte sie. Ich möchte das Pergamon-Museum sehen. Den Botanischen Garten. Und die Kirche, die man nach dem Krieg als Ruine stehen ließ.
Hugo Hamilton hat über diese Reise einen Roman geschrieben. „Jede einzelne Minute“ – erschienen im Herbst 2014 im Luchterhand-Verlag. Die Protagonisten: Ùna und Liam. Vielleicht brauchte er es, aus diesem Abstand heraus zu erzählen, was er selber erlebte. Für mich bleibt es jedoch mehr Biographie/Autobiographie als Roman. Die eigentlichen Hauptakteure – Nuala und Hugo – waren mir beim Lesen stets gegenwärtig. Es sind schlichte und doch so gewichtige Worte, die dieses Buch ausmachen, es fast kurz-weilig erscheinen lassen.
Dieses Mal ist es anders, sagte sie mehrmals während des Fluges von Dublin nach Berlin. Als die Stewardess ein Foto von uns machte, musste sie weinen. Sie lächelte und weinte gleichzeitig, und sie sagte: Dieses Mal ist es anders, Liam. Dieses Mal ist es anders. Vielleicht hatte sie Angst, so fotografiert zu werden. Denn das Foto hielt sie fest. Einerseits hielt es sie fest, andererseits ließ es sie stehen.
Eine Frau im warmen, schwarzen Mantel, einem grauen Cappy, das die kahle Kopfhaut bedeckt, an den Füßen rote Segeltuchschuhe mit weißer Sohle und weißen Schnürsenkeln, eine durchsichtige Plastiktasche mit Habseligkeiten auf dem Schoß. Im Rollstuhl sitzend – Ùna. Nuala? Ein deutlich jüngerer Mann, der den Rollstuhl schiebt, an ihrer Seite – Liam. Hugo?
Ihre Reiselust war ungebrochen, und die Reise nach Berlin gab ihr neuen Auftrieb. Sie war sozusagen ein Zugewinn an Zeit. Überzählige Zeit. Ja, ich sterbe, sagte sie, aber davon abgesehen geht es mir doch prima! Sie versuchte immer wieder, ihr Los mit Humor zu nehmen, bemühte sich, die Realität auszublenden. Verständlicherweise. Sie war voller Energie und wollte alles sehen. Alle Galerien. Alle Museen, alle Parks, alle Orte, die sie noch nicht kannte. Sie wollte mehr über die Geschichte erfahren, wollte wissen, wie sich die Stadt nach dem Fall der Mauer verändert hatte und wie sie jetzt aussah, in diesem Moment, lebendig, atmend und voller Erinnerung. Alles, was für mich noch möglich ist, sagte sie. Auf dem Briefpapier des Hotels hatte sie eine Liste geschrieben, einen Terminplan, wenn man so will.
Der Botanische Garten, die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, die Berliner Mauer, das Pergamon-Museum, das Holocaust-Mahnmal, die Berliner Staatsoper, die Paris Bar, das Hotel Adlon – Schauplätze dieser Reise und doch erscheinen sie nebensächlich.
Vielmehr geht es ums Reden. Sie reden miteinander. Sie reden viel. Und sie schweigen miteinander. Schonungslos ehrlich, an manchen Stellen verbittert und doch lebensbejahend erzählen die Beiden einander ihre Geschichten. Szenen der Vergangenheit leuchten auf, die ihr Leben geprägt haben: ganz zentral der für Ùna unverarbeitete Tod ihres jüngeren Bruders Jimmy und immer wieder geht es um die schwierige Beziehung zu ihren Eltern. Liams zerbrechliche Geschichte seiner Ehe, seiner Vater-Tochter-Beziehung. Vielleicht nie Ausgesprochenes wird ausgesprochen, nie Gedachtes gedacht.
Demütig und voller Fürsorge begleitet Liam Ùna in diesen Tagen. Szenen, wie er im Taxi ihre Fußnägel schneidet, gemeinsam mit ihr einen Bettbezug aussucht für ihren letzten Schlaf oder sie völlig verzweifelt im Hotel sucht, nachdem sie sich verlaufen hat, ihr Hände und Füße reibt, um sie zu wärmen, berühren zutiefst. Man spürt eine tiefe Vertrautheit der Beiden, ein stilles Zugeneigt sein, unvergleichliche Freundschaft.
Es ist eine außergewöhnliche Reise, eine Abschiedsreise, still, aber voller Bewegung – innerlich und äußerlich. Zerbrechlichkeit und Tod vor Augen und doch jede einzelne Minute des noch verbleibenden Lebens aufsaugend.
Wir hätten die schönste Zeit unseres Lebens haben können, sagte sie, wenn wir gemeinsam um die Welt gereist wären, zigmal über den Äquator, zu den Galapagos-Inseln und dem Indischen Ozean, bis nach Sri Lanka und Tibet, in jeden Winkel der Welt, an fremde Orte, egal in welcher Reihenfolge. Ach, all die Menschen, denen wir begegnet wären, die überfüllten Züge, überall Koffer, Leute, die auf der Gepäckablage schlafen, bis nach Afrika, wo das Leben auf Erden seinen Anfang nahm, und Gott allein weiß, wohin wir von dort gereist wären, vielleicht bis ans Ende der Welt. Ja, ich hätte für Jimmy bis ans Ende der Welt gehen müssen.
Alles egal, Hauptsache, wir wären unterwegs gewesen, sagte sie. Alles egal, Hauptsache, wir wären gereist.
Wenige Tage nach ihrer Rückkehr aus Berlin verstarb Nuala O’Faolain.

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