12.09.2016
..."Ruinen sind Tempel der
Abwesenheit. Wir hinterlassen unsere Gegenwart an allem, was wir berühren, und überall dort,
wo wir wohnen. Diese Gegenwart kann nie wieder getilgt oder widerrufen werden;
die Aura besteht fort. Gegenwart hinterläßt einen
Eindruck im Äther
eines Ortes. Ich stelle mir vor, dass der Tod eines Tieres und Menschen eine
unsichtbare Ruine für die Welt hinterlässt. Je älter die Welt
wird, desto mehr füllt sie sich mit den Ruinen
verschwundener Gegenwart.
Jede Ruine bewahrt die Erinnerung an
die Menschen, die sie einst bewohnten....Eine Ruine ist nie ¨leer¨. Sie bleibt
stets ein lebendiger Raum der Abwesenheit....
Umso ergreifender ist es, wenn eine
seit langem unbewohnte Ruine die Echos der Verschwundenen noch immer in sich
bewahrt. Diese unausgesprochene Gegenwart nachhallender Berührung, die
sich an verlassenen Stätten bemerkbar macht, fängt Hölderlin mit
den Worten ein:
Wenn gleich ist Nacht und Tag,
Und über langsamen
Stegen
Von goldenen Träumen schwer,
Einwiegende Lüfte ziehen.
Der verlassene Ort ist schwer von der
Gegenwart der Abwesenden, die einst dort vorübergegangen
sind.
John O'Donohue
Echo der Seele, S. 298
Warum ich diese Zeilen an den Anfang
meiner Eintragung heute stelle, wird sich später erklären...
Zunächst ein
kleines ¨
update¨
über
die Tage, die zum Glück noch immer sehr langsam verrinnen.
Vielleicht ist das Wetter ein Grund: Es sind stürmische und
nasse Tage und gestern war einer der Tage, an dem es noch nicht einmal den
leisesten Ansatz von Hoffnung auf Besserung gab.
Seltsam ist, dass uns dies überhaupt nicht
stört: Ich habe mir vor 2 Tagen einen scheußlichen
Schnupfen geholt, als wir - eine Regenpause nutzend, an den Strand gingen, um
das sanfte Abendlicht einfzufangen und uns zu bewegen! Der Wind riß förmlich an uns
und wir mussten uns ihm entgegenstemmen... Es ist kühler geworden
und das alles zusammen hat wohl ausgereicht:
meine erste Erkältung in Irland!
So haben wir ausgedehnte weitere
Lesetage eingelegt!
Mein ¨Mädchenzimmer¨ ist das geschützteste und wärmste im Haus
und ich habe es genossen, dort unter den Wolldecken zu liegen, den Blick ab und
zu nach draußen
in den Himmel zu richten, um zu sehen, dass ich weiterhin nichts verpasse!
Hans-Jürgen konnte
sich gut anschließen und unternahm aber kleine Ausflüge ohne
mich. Er stellte dabei fest, dass sich die Gezeiten in diesen Tagen nicht
an die ¨Zeit¨ halten und
sein Versuch, auf die Insel zu gehen scheiterte am hohen Wasserstand.
Unsere Gezeitenuhr ist also im Moment
nicht zu gebrauchen.
Clifden bereitet sich auf die ¨Arts Week¨ vor und wir
haben uns zwei Konzerte ausgesucht, die wir besuchen wollen. Beide mit traditional music.
Eine schöne Abwechslung
gestern waren ein nachmittäglicher Ausflug nach Ballynahinch zu
Kaffee + Scones am Kamin und eine Abendeinladung zu Claudia + Paul zum Essen.
Das Hotel scheint auch um diese Zeit
noch gut besucht zu sein. Der Ballynahinch River ist kurz davor, über seine Ufer
zu treten.. Die Wiesen stehen unter
Wasser und Ausflüge in den Bog verbieten sich bei
diesem Wetter ohnehin. Nur die Kühe sind unermüdlich um uns
herum auf den Weiden und scheinen immer wieder Wege im Bog zu finden, auf denen
sie nicht ¨stecken
bleiben¨.
Bei strömendem Regen
fuhren wir abends das kurze Stück zu Pauls
Haus und wurden von beiden und den Kindern, Maya und John, herzlich begrüßt. Das Haus
ist nicht sehr groß, aber sehr gemütlich und sehr
ansprechend. Wir saßen in der schönen Küche mit dem
alten kitchendresser von Pauls Mutter, den Claudia weiß gestrichen
hat. Blaues Bauerngeschirr hebt sich sehr hübsch ab und
insgesamt ist das Haus gepflegt und liebevoll eingerichtet!
Wir haben mit Claudia besprochen,
ihren Job auf unser Haus auszuweiten und sie hat sich nun entschieden, dieses
Angebot anzunehmen! Wir sind froh, sie
zu haben, denn sie hat das Auge, das nötig ist, dieses Haus gut und trocken über die Monate
zu bringen, in denen niemand hier wohnt!
Es wird ein munterer, schöner Abend mit
Meeresfrüchten,
die Paul selbst ¨ erntet¨. Er fischt,
wenn er die Zeit findet, gerne und überhaupt ist er sehr glücklich, im
Moment nicht nach England, der Arbeit
hinterherreisen zu müssen.
Hier und dort ein kleiner Job und die Attraktivität von Arbeit
in England ist ohnehin für die Iren durch den schlechten
Wechselkurs gesunken!
Bevor wir gehen, kaufen wir Claudia
noch zwei ihrer hübschen kunstgewerblichen Objekte ab,
die sie - je nach Zeit - aus Strandgut fertigt. ¨You are my
first customers¨
meint sie freudig -und will uns natürlich die Objekte zum Geschenk
machen! Es ist wirklich so unglaublich,
wie wenig auch sie ihre Arbeit ¨verkaufen¨ kann.. Da ist
sie bei den Iren in bester Gesellschaft!
Wir schauen noch verschiedene
Wetter-Apps an, um uns zu informieren, was in den nächsten Tagen
auf uns zukommt - und es sah nicht
gerade ermutigend aus!
Egal...Es war ein schöner Abend und
mit Claudia + Paul haben wir sehr liebenswerte und fröhliche
Menschen in unserem irischen Leben!
Von Cornelia und Peter kam nur einlieber Gruß. Sie scheinen
die kurze, kostbare freie Zeit, die sie hier haben für ihre Zweisamkeit
zu brauchen, was wir gut verstehen können!
Heute morgen eine schöne Überraschung: überwiegendend
blauer Himmel und der starke Wind hat nachgelassen! Was für eine
unerwartete Freude.
Endlich erstrahlt die Landschaft um
uns, vor allem die Küste, wieder in ihren gewohnten
Farben. Wir sind sofort bester Laune und
beschließen,
erst einmal die 80 Narzissen-Zwiebeln, die wir aus Galway mitgebracht
haben, entlang der Auffahrt in die Erde
zu bringen. Wir stellen uns vor, im März von einem gelb blühenden
Narzissensaum empfangen zu werden :)
Mir ist nach Ausflug, nach Bewegung.
Fast drei Tage war ich überwiegend im Haus - außer den kleinen
Ausflügen
nach Clifden oder Roundstone.
Einer der Strände, der uns
besonders gefallen ist der von Errislannan. Es ist der Strand der ¨ runden Steine¨ und am Pier
steht das beeindruckende alte Manor House, das weithin zu sehen ist. Wir sahen
auf Haus und Strand von der Lower Skyroad
vorgestern - ebenfalls ein schöner Ausflug bei immerhin trockenem
Wetter!
Aber dieser Strand ist besonders und übt eine besondere Faszination auf mich aus. Meine
Augen sind ständig
auf der Suche: nach Formen, Farben,
Mustern, nach Herzsteinen, aber auch flachen, kugelrunden oder eiförmigen.. Alles
ist hier vertreten und am besten setzt man sich einfach hinein in diese
Stein-Schönheit
und lässt
Augen und Hände
suchen!
Hans-Jürgen erkundete
die Fortsetzung des Strandes, der über ein Stück Wiese, auf
die man jedoch erst einmal klettern muss, gelangt. Mir war es zu nass und ich
zu unsicher auf den Füßen und so verweilte ich in
dieser ¨Steinlandschaft¨, die mir nie
langweilig werden wird.
Einen Augenblick lasse ich den
Gedanken zu, Florian mit seinen Kindern hier an diesem Ort spielen zu
sehen: ¨look Dad, what I found¨ - und Dad
kann gar nicht genug über die wunderbaren Formen der Steine
und ihre Farben staunen. Ich sehe sein überglückliches
Gesicht, gebräunt
von Sonne und Wind und seine langen, blonden Haare, die dieses schöne Gesicht
einrahmen. Sie sind lockig und dicht und zumindest eines der Kinder hat sein
Aussehen!
Ich muss die Bilder wegwischen, mich
zurückholen
in die Gegenwart, die immer ohne dieses Erleben bleiben wird! Es schmerzt sehr... Und ich suche Trost im
Rauschen der Wellen des Atlantik, die
hier über
den heranrollenden Steinen, eine eigene Melodie haben..
Ich denke an ¨Zeit¨ - daran, dass
ich schon vor Hunderten von Jahren hier hätte sitzen können und der
Blick wäre
der gleiche gewesen! Das Gefühl habe ich so
oft hier: Zeit spielt nicht annähernd die
Rolle, wie bei uns in einem so viel schnelleren und damit anstrengenderem
Leben. Alles ist verlangsamt und
manchmal schaue ich wie durch ein Prisma...
Ich brauche nicht viel. Ich brauche keine ¨Animation¨, keine
Sehenswürdigkeiten, alles hier ist sehenswert, wenn man die Sinne
öffnet
und im Detail liegt so unglaublich viel Schönheit!
Bei diesem Gedanken durchströmt mich eine
tiefe Ruhe und die Gelassenheit, die ich hier erlebe - und nur hier - kommt
langsam zurück. Alles hat einen Sinn, auch, wenn ich ihn
nicht verstehen kann. Ich mache mir
nicht mehr die Mühe, nach ihm zu suchen. Ich habe
akzeptiert, was ist und ich versuche, dankbar für das zu sein,
was ich erleben darf!
Hans-Jürgen holt mich
aus meinen Gedanken und wir machen uns auf den Weg zurück. Drei
Herzsteine wiegen schwer in meiner Manteltasche, aber ich freue mich
über
sie. Sie kommen an Florians Platz im Haus!
Nur eine Ecke weiter hatte ich bereits
an der Anfahrt ein altes Cottage gesehen, das in dichten Fuchsienhecken zu
versinken drohte. Es hat mich neugierig gemacht und wir halten an und sehen,
dass die Tür
offensteht.
Was uns dann erwartet, beschäftigt mich
noch immer und es hat mich nach den oben zitierten Zeilen von John O'Donohue
suchen lassen. Er war es, von dem wir
lernten, dass Ruinen, alte Gebäude die Seelen derer, die darin gelebt
haben, in sich weitertragen. So haben
wir es ja auch hier in unserem Haus angenommen und versucht, uns entsprechend
auch der Geschichte zu nähern.
Dieses Cottage nun war in dem Zustand
belassen worden, den es nach dem Tod seines letzten Bewohners hatte und das seit vielleicht mehr als 10
Jahren!
Ich weiß nicht, wie
lange ein Haus durchhält, das nicht mehr bewohnt und umsorgt
wird... Hier stand alles noch an seinem Platz und es scheint niemand etwas
bewegt zu haben!
In der Küche der
Teekessel auf der alten Kochmaschine, der Tisch mit Sets und einem verblichenen
Tuch. Besteck und Geschirr in den Schränken - unberührt, wie es
scheint. Und so gehen wir von Raum zu Raum - die Böden naß und durch die
Fenster wächst
der Efeu. In der Küche stehen die Putz- und Waschutensilien - als hätte
jemand sie gerade schnell verlassen, um
vielleicht Kräuter
im Garten zu holen.
Pfannen, Kessel, Eimear, alles steht
herum und das in aufgeräumtem Zustand... Es ist fast nicht zu
glauben.
Auf einer Kommode stehen Fotos von
Kindern, vielleicht waren es die Enkel, vielleicht die eigenen Kinder und aus
einem Gesundheitsausweisschließlich hervor, dass die letzte
Bewohnerin, die Mary King hieß, im Jahr 1956 32 Jahre alt war... Ein
Zeitungsausschnitt von 2007 lässt annehmen, dass dies das Jahr war,
in dem sie starb.
Wir bewegen uns wie in einem Museum
- und wissen doch, dass hier Menschen
gelebt haben und das zu ¨ unserer Zeit¨... Und
niemand scheint sich jemals um dieses Erbe gekümmert zu
haben. Vielleicht leben die Kinder in
den USA oder in Australien und haben sich nicht die Mühe gemacht,
zum Begräbnis
der Eltern zu kommen.. Sie scheinen sich nicht für das ¨Haus in Irland¨ zu
interessieren - oder es waren zu viele Kinder, die sich nicht einigen konnten,
was mit diesem Erbe geschehen soll. Das ist das Schicksal sehr vieler Häuser in
Irland, die letztlich zu Ruinen werden.
Ich mache Fotos von einigen Dingen,
die mich besonders berühren... Und wir werden an diesen Ort
noch einmal zurück
kommen! Fast möchte man
Blumen niederlegen, wenn nicht das Haus bereits im roten Blütenmeer der
Fuchsien stünde.
Wir überlegen
beide, wo in der Welt, wäre es möglich, ein
Haus über
diese lange Zeit bei geöffneter Tür sich selbst
zu überlassen,
ohne dass Vandalismus oder zumindest Diebstahl über den Ort
hereinbrechen und ihm die Würde nehmen würden. Uns fällt keiner
ein. Auch das ist Connemara!
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